
Verborgene Naturschätze im Val Piora
Die Vielfalt an Naturwundern im Val Piora ist legendär. Begründet durch die besondere Geologie, entstand eine Fülle an Landschaftsformen und Lebensräumen. Neben den Sedimenten der sogenannten Piora-Mulde stossen hier das Kristallin des Gotthardmassivs und der Gneis und der Schiefer der Lukmanierdecke aufeinander. Quer durch die Piora-Mulde zieht sich eine Dolomitader. In dem bröseligen Gestein konnten sich faszinierende Karstformen wie Dolinen, Höhlen, Schlucklöcher und fossile Schluchten bilden – besonders gut zu sehen rund um den Lago Cadagno. Im Kontrast zu den zackigen Formen stehen die von Gletschern geformten rundlichen Buckel und Mulden des festen Kristallins, in die sich bezaubernde Seen schmiegen. Mitunter fühlt man sich an eine Fjordlandschaft erinnert. Vor allem bei der Ankunft am Lago Ritóm, kaum hat man sich mit einer der weltweit steilsten Standseilbahnen hinauftragen lassen. Ein rund zehn Kilometer langer biologischer Lehrpfad zieht am Südufer des Lago Ritóm entlang zum Zentrum für Alpine Biologie bei der Käserei Alpe di Piora, wo er nahtlos in den Lehrpfad zur Mikrobiologie rund um den Lago Cadagno übergeht. Von Cadagno di Fuori wieder zurück zum Zentrum folgt man der Fahrpiste weiter an der Capanna Cadagno vorbei Richtung Passo del Sole. Bei Pkt. 1981 zweigt man rechts ab und geht immer weiter in Richtung Passo Forca. Der Höhenweg bietet immer wieder schöne Seeblicke. Teilweise sind die Pflasterungen des alten Saumweges noch erhalten. Sehr schön ist es bei Pinett, wo die Höhenroute nach rechts verlassen wird, um zum Rifugio Lago Ritom abzusteigen. Zurück geht es dann wieder auf der Bergstrasse in rund 25 Minuten zur Standseilbahn.
Wie ein «normaler» Bergsee sieht der Lago Cadagno aus. Naturbelassen und verträumt, wie er sich da unter hohen Bergen in saftige Wiesen bettet. Nichts verrät seine Besonderheit. Allenfalls das kleine Forscherfloss, das mitten im See dümpelt. Auf fast 2000 m ü. M. eine Badeinsel vorzufinden, wäre eher unwahrscheinlich. Stattdessen wird die Miniplattform genutzt, um Wasserproben zu entnehmen, die dann im nahen Labor untersucht werden – versteckt in uralten Alphütten. Seit Jahrzehnten zieht der Lago Cadagno Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus aller Welt an. Rätselhafte Dinge geschahen hier, die man sich zunächst nicht erklären konnte. Heute ist man einigem auf die Schliche gekommen, doch es bleibt noch viel zu erforschen.
Hightech hinter alten Mauern
Samuele Roman hält drei Flaschen mit Flüssigkeiten in die Höhe und sagt bedeutungsvoll: «Im Grunde ist das hier die Entstehung des Lebens auf dieser Erde.» Der strahlende Mann mit der roten Jacke ist Aufseher des Centro Biologia Alpina, des Zentrums für Alpine Biologie, das 1994 eröffnet wurde. Es befindet sich in einem ehemaligen Stall aus dem 16. Jahrhundert, gleich neben der Käserei Alpe di Piora. Aussen verwitterte Steinmauern, innen eine hochmoderne Forschungsstation. Fast würde man daran vorbei wandern, wüsste man nicht, dass das Gebäude auch für die Öffentlichkeit zugänglich ist und im Rahmen einer permanenten Ausstellung die aussergewöhnlichen Naturphänomene des Val Piora erklärt werden.
Oben lebts, unten stirbts
Das Hochtal zieht sich östlich von Airolo Richtung Lukmanierpass und zeigt eine Weite, die man vom Tessin so nicht kennt. Mit einer Fläche von 3500 Hektar ist es die grösste Alp des Kantons, ein viehbelebtes und wanderbeliebtes Gebiet von ausserordentlicher Schönheit. Es gluckst und glitzert. Bäche, Seen, Moore, wo man hinschaut.
Womit wir wieder bei den Flüssigkeiten wären. Im Lago Cadagno existieren zwei ganz unterschiedliche Wasserschichten, die sich nicht vermischen, erklärt Samuele. Als Meromixis bezeichnet man dieses sehr seltene Phänomen. Die obere Wasserschicht, klar und sauerstoffreich, bietet Amphibien, Plankton und Algen ein optimales Habitat und damit ein üppiges Nahrungsangebot für Fische. Deshalb sieht man nicht selten Angler am Ufer, gilt der See doch als eine der fischreichsten Wasserperlen der Schweiz.
Flüchten können die Fische nicht, denn, würden sie tiefer tauchen, kämen sie in die untere Wasserschicht: Diese ist schwefelhaltig, voller toxischer Salze und ohne Sauerstoff. Eine Todeszone. Aber warum vermengen sich die gegensätzlichen Wasserschichten nicht, stellt sich automatisch die Frage. Es liegt daran, dass sie eine unterschiedliche Dichte aufweisen. Die obere Schicht wird von Oberflächenwasser aus der Schneeschmelze gespeist und weist, arm an Mineralien, eine niedrige Dichte auf. Die untere Schicht erhält ihr Wasser von unterirdischen Quellen aus dem Dolomitgestein. Der starke Salzgehalt bewirkt eine höhere Dichte, stabilisiert und verhindert die Durchmischung.
Die rosarote Übergangszone
Zwischen beiden Schichten trifft man in einer Tiefe von 10 bis 13 Metern auf eine Übergangszone. Das Wasser ist hier bereits sauerstoffarm, aber es gibt noch ausreichend Licht. Ein Paradies für Schwefelbakterien, die das Wasser rosa färben. Sie verwandeln den giftigen Schwefelwasserstoff zu Sulfat und wirken damit wie ein biologischer Filter.
Samuele hat sich den purpurroten Bakterien verschrieben. Er legt Kulturen von verschiedenen Schwefelbakterienarten an, um sie dann zu untersuchen. Schaut man durch das Mikroskop, wimmeln und wuseln die Tierchen, die dermassen vergrössert wie Ungeheuer aussehen. Diese Organismen, sind sie auch noch so winzig und mit blossem Auge nicht sichtbar, spielen in unserem Ökosystem eine Schlüsselrolle und haben in den letzten Jahrzehnten wertvolle Erkenntnisse über die Entstehung des Lebens geliefert, da es sie schon zu Beginn der Evolution gab.
Chance für die Forschung
In der tiefsten Schicht des Lago Cadagno ähneln die Bedingungen jenen der Urmeere. Was für eine Chance für die Forschung. Und immer wieder gibt es Neuentdeckungen. So untersuchte ein Forschungsteam den Schlamm auf dem Seegrund und fand heraus, dass sich organisches Material ganz ohne Mikroorganismen in Vorstufen von Erdöl umwandeln kann. Das machte anno 2006 Schlagzeilen und der Lago Cadagno schaffte es gar auf das Cover des Wissenschaftsmagazins «Science».
Roter Sonnenschutz
Samuele legt eine Flechtenart unter das Mikroskop, und man schaut auf eine dreidimensionale Kraterlandschaft. Mittlerweile weiss die Wissenschaft, dass bestimmte Flechten 2,5 Zentimeter in 100 Jahren wachsen. So lassen sich Gebäude datieren, erklärt der 47-jährige Tessiner. Fast hätte eine Putzequipe die Flechten auf den mittelalterlichen Steinwänden des Forschungszentrums entfernt, sagt er schmunzelnd und zeigt auf die Roten unter den Flechten. Rot schütze vor der Sonne. Es scheint, als widme sich der biomedizinische Analytiker nicht nur bei der Kleidung und den Mikroorganismen der roten Farbe. Ganze 177 Flechtenarten seien hier inventarisiert, neben 172 Pilz- und 400 Moosarten sowie 511 vaskulären Pflanzen, zu denen beispielsweise Farne und Samenpflanzen gehören.
Bröselige Blickfänge
Grundlage dieses Reichtums liefere die Vielfalt an Gesteinen. Samuele tritt vor einige Schautafeln. Neben den Sedimenten der sogenannten Piora-Mulde stossen hier das Kristallin des Gotthardmassivs und der Gneis und Schiefer der Lukmanier-Decke aufeinander. Quer hindurch zieht sich eine Dolomit-Ader. Die Dolomia saccaroide, bröselig wie Zucker, bereitete vor einigen Jahren beim Bau des Gotthard-Basistunnels grosse Probleme. Überirdisch sorgt sie für landschaftliche Blickfänge wie die Türmchen und Pyramide am Pizzo Columbe, Blickfang südöstlich der Alpe di Piora.
Ganz im Kontrast zu den zackigen Formen stehen die Rundungen des kristallinen Urgesteins, die vom Gletscher hervorgebracht wurden. Es sind kesselartige Vertiefungen, Kare genannt, sowie Buckel, die noch heute von der Kraft des Eises zeugen. In die Mulden schmiegen sich nun bezaubernde Seen. Mitunter fühlt man sich an eine Fjordlandschaft erinnert. Vor allem bei der Ankunft am Lago Ritóm, kaum hat man sich mit einer der weltweit steilsten Standseilbahnen hinauftragen lassen, denn eine Steilstufe von 850 Höhenmetern trennt das Val Piora vom Val Leventina.
Wandern und lernen
Ein rund zehn Kilometer langer biologischer Lehrpfad zieht am Südufer des Lago Ritóm entlang bis zum Zentrum für Alpine Biologie, wo man mit dem Lehrpfad über Mikrobiologie rund um den Lago Cadagno fortfahren kann. Ergänzt wird das Angebot durch die aufschlussreiche Broschüre «Die Entdeckung einer verborgenen Welt». Lebendiger sind die Führungen mit Samuele, der oft auch mit Schulklassen oder Studierenden auf den Lehrpfaden unterwegs ist. Eines der wichtigsten Ziele des Zentrums sei es, Wissen weiterzugeben, um die Wertschätzung und den Respekt vor der Natur zu fördern, betont der Wissenschaftler.
Wer rätselt, wie man überhaupt all die Geheimnisse des Lago Cadagno aufgespürt hat? Der Lehrpfad verrät es.

Tipp
In der Siedlung Cadagno di Fuori im Val Piora birgt ein unscheinbarer Stall wahre Kostbarkeiten. Durch eine Luke darf man hineinspitzeln und sieht lauter hängende Schinken. Zur Degustation des berühmten Prosciutto crudo Piora bietet sich gleich nebenan der Ristoro Taneda an. Eine andere Genusskammer lockt neben dem Forschungszentrum: die Sennerei des berühmten Piora-Käses (Infos: Tel. 091 868 13 25). Que formaggio cremoso.