Auf Schnittlauchtour in Samnaun GR
Blopp, blopp, blopp. Immer wieder fährt die Klinge durchs Grün. Blopp, blopp, blopp, tönt es ganz leise, wenn sie die einzelnen Schnittlauchhalme durchtrennt. Als würden kleine Blasen aus dem Wasser auftauchen, in dem wir knöcheltief stehen. Das Geräusch unterscheidet sich deutlich von jenem, wenn Gras geschnitten wird. Dann tönt es weniger gehaltvoll, weniger hohl als beim Schnittlauch.
Am Morgen wandern wir von der Alp Trida oberhalb Samnaun los, über die Alp Bella, den Hang schräg hinauf auf den Spatlaskopf. Dort beginnt unser Abenteuer in den Schnittlauchgründen der Unter Malfrag. Sie sind von Weitem schon zu sehen: Dunkle Stellen in den saftig-grünen Wiesen, feuchte Abschnitte, die in der Talsohle unten an einen wild schäumenden Bergbach grenzen.
Erst die Arbeit, dann das Fondue
Begleitet werden wir von Thomas Jenal. Im Samnauntal aufgewachsen, führt er seit über 30 Jahren das Sonnenhotel Soldanella-Sonneck. Die Schnittlauchtour macht er mehrmals jährlich mit seinen Gästinnen und Gästen, so heute auch mit uns. Vom Spatlaskopf her umrunden wir den Talkessel und überschreiten den Grenzbach zu Österreich, bevor wir in eines der dunkelgrünen Felder hinabstechen. Der Untergrund wird immer feuchter, bei jedem Schritt matscht es unter den Sohlen. Und dann ist es so weit: Thomas stellt seinen Rucksack auf den Boden, öffnet ihn – und entnimmt ihm eine Flasche Weisswein, die er sogleich im nahen Bächlein kühl stellt. Eine wichtige Tat, denn schliesslich sind wir gekommen, um ein Outdoorfondue mit frischem, wildem Schnittlauch zu geniessen.
Doch erst die Arbeit. Wir krempeln die Hosen hoch, ziehen unsere Wanderschuhe aus und stehen kurz darauf barfuss im Sumpf. Thomas händigt uns kleine, gebogene Messer aus, und zeigt uns, wie wir den Schnittlauch am besten schneiden.
Die linke Hand hält die Halme und zieht vorsichtig daran, die rechte führt das Messer, blopp, blopp, blopp. Nach dem Schnitt schüttelt die Linke das Büschel: Die Grashalme, die wesentlich kürzer sind, fallen zu Boden. Dann zupft die Rechte alle härteren Stängel mit den violetten Blüten des Schnittlauchs heraus. Und so geht es immer weiter, in schon fast fiebriger Emsigkeit schneiden und schneiden wir. Längst sind die Finger klebrig vom Saft, der an den Schnittstellen austritt.
Meditative Abwesenheit
Unterdessen hat sich Thomas von uns abgesetzt. Etwas weiter oben am Hang beginnt er, auf einem grossen, flachen Felsen das Fondue herzurichten. Er setzt den Brenner in Gang, stellt das Caquelon darauf und füllt es mit Käse. Es dauert etwas, bis er den flüssigen Käse zu rühren beginnt. Und uns zuruft, dass wir bald essen können.
Doch wir sind in Element, hören seinen Ruf nicht. Das Schneiden ist meditativ. Blopp, blopp, blopp. Einen Schritt weiter, frischkaltes Wasser umschliesst den Knöchel von Neuem, dann sinkt der Fuss im dunkelbraunen Morast ein, als ginge es ins Bodenlose. Doch bald hat er wieder Halt. Stehend sehen wir den Schnittlauch kaum im Grün des Grases. Erst in der Hocke erkennen wir, dass viele Einzelhalme um uns herumstehen: Sie bewegen sich etwas im Wind, sind milchiger, blasser als jene des Grases. Hie und da blüht auf einem Stängel eine Blüte.
Gesunde Halme
«Wilder Schnittlauch ist von der Konsistenz her härter und kräftiger im Geschmack als jener aus dem Garten – er hat ja auch viel Zeit zum Wachsen hier oben in den Bergen», erzählt Thomas. «Und er riecht stark nach Knoblauch.» Nicht nur deshalb ist die Verwechslungsgefahr bei wildem Schnittlauch sehr gering: Die runden Halme der 25 bis 50 Zentimeter hohen Pflanze unterscheiden sich klar von anderen Pflanzen. «Wichtig ist, dass man die Halme schneidet und nicht ausreisst. Denn Schnittlauch ist mehrjährig, seine Zwiebel muss im Boden bleiben», erklärt Thomas.
Wilder Schnittlauch ist auch gesund. Er enthält mehr Vitamin A, Vitamin B2 und Vitamin C als der kultivierte Schnittlauch. Zudem enthält er ätherische Öle, die verdauungsfördernd und appetitanregend wirken. Und er kann blutdruck- und cholesterinsenkend wirken sowie das Immunsystem stärken.
Stückeln und einfrieren
Das Bündel in der linken Hand wird immer dicker. Es fühlt sich weich an. Wenn die Hand sich schliesst, geben die Schnittlauchhalme etwas nach, springen aber gleich wieder in ihre ursprüngliche Form zurück, sobald die Hand sie loslässt.
Das Bündel ist bald kaum mehr zu halten. Wir machen ein Depot, und auch der Haufen wächst schnell. Über zwei Kilo werden es am Schluss sein. Alle Halme haben wir schön ausgerichtet, damit später das Schneiden einfacher ist.
Diese Vorarbeit wird am nächsten Tag der Koch schätzen, den wir in der Hotelküche besuchen werden. Routiniert führt Andras Ribas das Messer und schneidet unsere Ernte in kurze Stückchen. Daneben steht ein fünf Zentimeter hoher Edelstahlbehälter, bereits randvoll gefüllt mit dem grünen Kraut. Der langjährige Hotelkoch ist sich gewohnt, immer wieder sackweise Schnittlauch geliefert zu bekommen – einmal waren es gar 30 Kilogramm aufs Mal.
Nach dem Schneiden steckt er den Behälter in den Schockfroster. Durch das rasche Abkühlen verliert der Schnittlauch kaum Flüssigkeit – die Konsistenz bleibt erhalten, auch wenn er Wochen später wieder aufgetaut ist. Dann verarbeitet Andras ihn zum Beispiel zum Bergschnittlauchquark, der jeden Morgen auf dem Frühstücksbuffet steht.
Überraschender Besuch
Blopp, blopp, blopp. Auf der Unter Malfrag liegt ein würziger Geruch in der Luft. Die Sonne brennt im Nacken. Auf der anderen Talseite rufen die jungen Murmeltiere, sie üben das Alarmzeichen. Und zwischen den Murmeltierrufen hören wir plötzlich auch den Ruf von Thomas. Das Fondue ist bereit!
Auch wir sind jetzt bereit. Hungrig schauen wir Thomas dabei zu, wie er als letzte Zutat bedächtig frischen Schnittlauch ins Fondue streut. Das Brot liegt bereit, den Weisswein hat Thomas geholt und eingeschenkt. Hungrig tunken wir die Brotwürfel in den Käse. Der Knoblauchgeruch des Schnittlauchs breitet sich rasch auf der Zunge aus, dominiert aber nicht. Das Festmahl unter freiem Himmel gelingt.
Dann ein gellender Ruf, gleich neben uns. Wir schauen hin und sehen, wie – nur wenige Meter entfernt – ein Murmeltier verärgert zu uns herüberschaut. Offenbar dinieren wir in seinem Revier. Doch unsere geballte Aufmerksamkeit erschreckt das Tier ebenso, wie es uns überrascht hat, und so verschwindet es rasch wieder. Doch seine Botschaft ist klar, und nach dem gemütlichen Zmittag packen wir zusammen und überlassen dem Tier das Feld. Im Gepäck zwei grosse Säcke mit wildem Schnittlauch. An unseren Fingern dessen scharfer Geruch – wir werden in noch einige Tage riechen.
Unterwegs zum wilden Schnittlauch in Samnaun
Wer von der Wanderung etwas Kleines mit nach Hause nehmen möchte, ist auf der Unter Malfrag oberhalb Samnauns am richtigen Ort. Denn in diesem Talkessel wächst im Juli und August wilder Schnittlauch. Von Weitem schon sieht man die dunkleren Feldpartien am unteren Zandersbach: Es ist sumpfig dort, ideale Lebensbedingungen für den Schnittlauch. Wer ihn schneiden will, tut dies am besten barfuss und mit heraufgekrempelter Hose. Ein scharfes Messer ist nötig, damit man die Zwiebel der Pflanze nicht aus dem Boden reisst. Die Wanderung beginnt mit einer Seilbahnfahrt bis Samnaun-Ravaisch, die in der Gästekarte inklusive ist. Hinauf geht es zum Alptrider Sattl und wieder hinunter auf die Alp Trida. Zu Fuss erklimmt man dann den Spatlasattel, der auf der Karte Fuorcla heisst. Von hier aus umrundet man den Talkessel Unter Malfrag. Dabei gelangt man auf die österreichische Seite des Tals – Identitätskarte also nicht vergessen. Nach dem Schnittlauchsammeln geht es über den Matschiberlesattel ins Zanderstal. Der Weg ist rot-weiss markiert, die Wegzeichen muss man aber zeitweilen etwas suchen. Bald biegt man auf ein Alpsträsschen mit Naturbelag ein, das rechter Hand entlang eines riesigen Alpenrosenteppichs, linker Hand an zahlreichen Orchideen vorbei zur Fliesser Alpe führt. In der Jausenstation lässt sich einkehren und Alpkäse kaufen, man bezahlt mit Euro. Das Strässchen zieht sich durch Blumenwiesen weiter talwärts, bis kurz vor der Schweizer Grenze mehrere Wegweiser nach Bödra zeigen. Die Höhe haltend, wandert man auf dem Kulturweg nach Samnaun-Compatsch, nicht ohne vorher noch einen Blick auf die ein Dutzend Modellhäuser zu werfen, die der Dorfchronist Arno Jäger alle selbst gebaut hat. Die Häuschen stehen draussen und können frei besichtigt werden.