
Wanderung zur Mitte Liechtensteins
Wandern und Mathematik sind beste Freunde. Mithilfe der Mathematik lassen sich Wanderzeiten, Weglängen und Höhenunterschiede berechnen, und dank ihr ist es möglich, den exakten Mittelpunkt eines Landes zu bestimmen – den man auch besuchen kann. Zum Beispiel jenen des Fürstentums Liechtenstein. Georg Schierscher hat diesen Punkt anlässlich des «Weltjahres der Mathematik 2000» errechnet. Ein 4,5 Tonnen schwerer Findling markiert den Punkt mit den Koordinaten 760'361 / 223'297 auf der 1721 Meter hoch gelegenen Alp Bargälla. Die Wanderung zum geografischen Mittelpunkt führt über den Plattaspitz, einen unscheinbar wirkenden Gipfel mit fantastischer Aussicht auf das Fürstentum Liechtenstein, die Vorarlberger Alpen und das Rheintal. Die Tour bietet viel Abwechslung trotz relativ kurzer Wanderzeit. Nach dem Start in Steg steigt der Weg zügig an zum aktuell geschlossenen Berggasthaus Sücka. Kurz danach erreicht man den alten Tunnel, der seit 1864 den Zugang vom Tal in die Bergsiedlungen Steg und Malbun erheblich vereinfacht. Passieren tut man den Tunnel erst auf dem Rückweg. Erst einmal heisst es aufsteigen zum Plattaspitz auf zunehmend schmaler werdendem Weg. Rund um den Gipfel ist dieser mit Ketten gut gesichert. Der Gipfel bietet gerade mal zwei Menschen Platz, um die Aussicht zu geniessen. Besser rasten lässt es sich auf den schönen Weiden rund um den Bargällasattel. Der Abstecher vom Sattel zum geografischen Mittelpunkt ist gut markiert, der markante Stein mitten auf der Alpwiese bei Bargälla ist nicht zu übersehen. Der Rückweg nach Steg ist Genusswandern pur. Durch lauschige Wälder und vorbei an der Walsersiedlung Silum steht man alsbald vor dem alten Tunnel, der einen von der Rheintalerseite zurück ins Saminatal und zum Ausgangspunkt der Tour bringt.
Beim Stichwort Mathematik werden Erinnerungen an die Schulzeit wach – an den Kampf mit Zahlen und Formeln und an die Auseinandersetzung mit einer Materie, mit der viele wenig anzufangen wissen. Dabei steckt unser Leben voller Mathematik. Wir zählen, ob das Münz im Portemonnaie für einen Kaffee reicht, wir spielen mit einem abgestumpften Ikosaeder, dem Fussball, und wir erfreuen uns an der Schönheit von Sonnenblumen, deren Blütenköpfe nach der Fibonacci-Reihe aufgebaut sind, einer mathematischen Zahlenreihe.
Diesem Dilemma ist sich die Internationale Mathematikervereinigung bewusst, als sie das Jahr 2000 zum Weltjahr der Mathematik ernennt und ihre Vereinigungen rund um den Globus einlädt, mit Aktivitäten das öffentliche Bild der Mathematik zu verbessern.
Im Fürstentum Liechtenstein gibt es keine Mathematikervereinigung. Aber es gibt Georg Schierscher, damals Mathematiklehrer am Liechtensteinischen Gymnasium. Das Schreiben aus Paris landet auf seinem Pult. «Ich las den Brief, war fasziniert und beschloss, auf das Weltjahr hin ein mathematisches Objekt für die Öffentlichkeit zu schaffen», erinnert sich der heute 83-Jährige.

Georg Schierscher
Land ohne Mittelpunkt
Ein Bild in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom geografischen Mittelpunkt der Schweiz liefert die Idee. «Ich wollte Antworten finden auf Fragen wie: Was ist der Mittelpunkt eines Landes? Wie berechnet man ihn, und wie überträgt man die Berechnungen ins Gelände?» Schnell stellt Georg Schierscher fest: Viele Länder kennen ihren Mittelpunkt. Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien sowie aller Schweizer Kantone. Nur Liechtenstein hat keine Mitte. Das soll sich ändern.
Georg Schierscher erkundigt sich beim Bundesamt für Landestopografie Swisstopo, wie dieses den Mittelpunkt der Schweiz definiert hat. Flächenschwerpunkt ist das Stichwort, das der Mathematiker aus Bern erhält. Flächenschwerpunkt? «Das ist der Punkt, in dem sich eine Fläche im Gleichgewicht befindet, stellt man sie auf einen spitzen Gegenstand, zum Beispiel einen Bleistift.» Die erste Methode zur Bestimmung des Mittelpunkts seines Landes ist damit gegeben. «Ich schnitt die Fläche Liechtensteins aus einer Landeskarte vom Massstab 1:25 000 aus und balancierte diese auf einer Bleistiftspitze.» Das Resultat erscheint Georg Schierscher jedoch zu ungenau, eine Abweichung von einem Millimeter auf seinem Kartonmodell entspricht einer Distanz von 25 Metern im Gelände. Der Mathematiker beschliesst zu rechnen.
Schweizer Landeskartennetz als Basis
Den Schwerpunkt einer regelmässigen Form wie der eines Quadrats zu berechnen ist einfach. Er liegt im Schnittpunkt der Diagonalen in der Mitte des Quadrats. Beim Betrachten der unregelmässigen Form und der zickzackförmigen Grenzlinie seines Landes indes wird Georg Schierscher klar: Das wird eine anspruchsvolle und rechenintensive Angelegenheit und erfordert die Unterstützung eines Computers. Die dazu nötigen Programme wird er später selbst schreiben.
Das Land in 2185 Dreiecke zerlegt
Zunächst erhält Georg Schierscher vom Liechtensteiner Tiefbauamt die Koordinaten aller 2185 Landesgrenzpunkte Liechtensteins. Er gibt diese in seinen Computer ein und wandelt sie so um, dass er sie für seine Berechnungen nutzen kann. «Danach ging ich die exakte Methode der Berechnung an. Ich wählte dazu im Landesinnern einen festen Punkt, verband diesen der Reihe nach immer mit zwei benachbarten Grenzpunkten und erhielt so 2185 Dreiecke. Deren Schwerpunkte konnten mithilfe der Dreiecksgeometrie berechnet werden.» Aus diesen Einzelschwerpunkten liess sich in einem zweiten Schritt der Gesamtschwerpunkt und damit der geografische Mittelpunkt Liechtensteins auf den Meter genau bestimmen. Er trägt die Koordinaten 760 361 / 223 297 und befindet sich auf der Alp Bargälla, 1721 Meter über Meer. Zwei weitere Berechnungen, diesmal nach näherungsweisen Methoden, kommen zum selben Ergebnis.
Zu schwer für den Heli
Ende Oktober 2000 wird der Punkt auf der Alp Bargälla vermessen, danach macht sich Georg Schierscher auf die Suche nach einem Stein für dessen Markierung. «Im österreichischen Teil des Saminatals waren Bachverbauungen im Gang, mit wunderschönen Findlingen des Illgletschers.» Unter denen wird Georg Schierscher fündig, seine Wahl fällt auf einen Brocken von über sechs Tonnen Gewicht.

Am geografischen Mittelpunkt Liechtensteins.
Zwei Tage vor Abzug der Baumaschinen erteilt Wien die Ausfuhrbewilligung und überlässt den Liechtensteinern den Stein als Geschenk, ein Lastwagen nimmt ihn mit ins Tal. Den Transport auf die Alp Bargälla, zum geografischen Mittelpunkt, wird später die Heliswiss übernehmen. Sie ist im Besitz des damals leistungsfähigsten zivilen Transporthelikopters Europas, eines Kamov KA-32 A12. Doch mehr als fünf Tonnen Gewicht kann selbst dieser Riese nicht heben. Also trennt ein Steinmetz einen Teil vom Findling ab und bringt auf der Schnittfläche die Inschrift an: «Mittelpunkt von Liechtenstein. Berechneter Flächenschwerpunkt. Y = 760 361 X = 223 297. Bargälla 1721 m. ü. M. Weltjahr 2000 der Mathematik». Am 30. September 2001 wird der Stein eingesegnet, im Beisein von Gästen aus dem In- und Ausland.
Ein Gästebuch für den Mittelpunkt
Der Besuch des geografischen Mittelpunkt Liechtensteins lässt sich mit einer abwechslungsreichen Wanderung verbinden. Sie führt vom Weiler Steg über den Plattaspitz zur Alp Bargälla und an der Walsersiedlung Silum vorbei zurück zum Ausgangspunkt. Die Aussicht vom mit Ketten gesicherten Gratweg über den Plattaspitz ist einzigartig und reicht von den Drei Schwestern über das Saminatal und das Rheintal bis zum Säntis, den Churfirsten und den Bünder Alpen. Der geografische Mittelpunkt Liechtensteins ist vom Bargällasattel über einen kurzen Abstecher zu erreichen. Dort kann man sich verewigen – in einem Gästebuch, das eine eigens beschriftete Metallkassette erhalten hat. «gMLi» steht darauf. Die Abkürzung für «seinen» Punkt verwendet Georg Schierscher bis heute.

Wunderschöner Tiefblick aufs Rheintal kurz vor dem Gipfel.

Tipp
Für seinen Unterricht am Liechtensteinischen Gymnasium entwickelte Georg Schierscher zahlreiche Modelle, um Mathematik für die Schülerinnen und Schüler verständlich zu machen. Daraus entstand nach seiner Pensionierung die Ausstellung «Matheliebe». Sie entführt anhand von sieben Themenbereichen in die Welt der Mathematik und lädt dazu ein, auf experimentelle und anschauliche Weise in die Wissenschaft der Muster einzutauchen.
matheliebe.li