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Wanderreportagen

Flatterhafte Schönheiten

Alpwiesen sind wahre Schatztruhen der Artenvielfalt. An sonnigen Sommertagen blüht es auf ihnen in allen Farben – und über ihnen flattern Dutzende Schmetterlingsarten. Auf einer Rundwanderung in den Gastlosen mit dem Schmetterlingsexperten Martin Albrecht.
11.04.2025 • Text: Simon Koechlin, Bilder: Sam Buchli
Filigrane Gäste an den Gastlosen
Abländschen, Jaungrund • BE

Filigrane Gäste an den Gastlosen

Nicht umsonst werden die Gastlosen zuweilen als Saanenländer Dolomiten bezeichnet. Wie eine überdimensionale Zahnreihe ragen bis zu 300 Meter hohe, schier senkrechte Felswände in den Himmel im Grenzgebiet der Kantone Bern, Freiburg und Waadt. Es ist eine zauberhafte Landschaft mit wunderbaren Alpweiden und Bergwiesen, auf denen es bei schönem Sommerwetter nur so summt und brummt. Die Rundwanderung startet und endet bei der Postautohaltestelle «Abländschen, Jaungrund». Der Weg führt stetig bergan über Weiden bis zum ersten Etappenziel, dem Obere Ruedersberg. Kurz hinter der Alp ist ein Autoparkplatz mitsamt WC-Kabine eingerichtet, den vor allem Kletternde gern nutzen. Der Weg führt nun kurz einem Bergbach entlang, an dessen Ufer der Schlangenknöterich und andere feuchteliebende Pflanzen wachsen. Am besten zieht man zwischen Ende Mai und Ende August an einem sonnigen und nicht allzu windigen Tag los. Bei solchen Bedingungen fliegen nämlich entlang des Wegs Dutzende Schmetterlinge mit ihren filigranen Flügelchen von Blüte zu Blüte. Dann wird es steiniger, und ein ruppiger, kurzer Anstieg führt bis an den Fuss der Wandflue. Wer Glück hat, kann hier den Apollofalter finden, der mit seinen roten Augenflecken auf den weissen Flügeln unverwechselbar ist. Über eine steile Alpwiese und durch ein kleines Waldstück geht es der Wand entlang immer weiter aufwärts. Das Panorama – Richtung Süden zum Grischbachtal und gegen Osten Richtung Simmental – ist beeindruckend. Dann ist der Anstieg geschafft: Flach führt der Weg nun teilweise über Kalkschutt bis zu Wolfs Ort, einem Übergang zur Freiburger Seite der Gastlosen. Diese Wanderung bleibt auf der Berner Seite, führt im Zickzack hinab in Richtung Oberi Bire am Venners Chöpfli und danach ungefähr einen Kilometer auf einer asphaltierten Strasse wieder zurück in Richtung Obere Ruedersberg. Der Weg zum Postauto ist nun derselbe wie am Anfang der Wanderung.

zum Wandervorschlag

Die Sonne brennt auf die blumenreichen Wiesen unterhalb der markanten Kalkfelsen der Gastlosen im Grenzgebiet der Kantone Bern, Freiburg und Waadt. Es ist Schmetterlingswetter. Zu Dutzenden tanzen sie über die Matten, segeln im Wind und saugen an Blüten. Martin Albrecht steht am Wegrand etwas unterhalb der Alp Obere Ruedersberg auf der Berner Seite der Gipfel. Er hat einen der Falter ins Visier genommen und lässt das Netz in seiner Hand mit einer schwungvollen Bewegung durch die Luft sausen.

Erwischt! Mit routinierten und vorsichtigen Bewegungen stülpt Albrecht ein durchsichtiges Plastikröhrchen über seinen Fang, um ihn zu begutachten. Es ist ein kleiner Schmetterling mit bräunlichen Hinterflügeln und orangen Vorderflügeln, auf deren Spitze ein augenähnlicher Fleck zu sehen ist. «Das ist das Kleine Wiesenvögelchen, ein häufiger Tagfalter», sagt Albrecht. «Es gehört zu den Augenfaltern – und wie bei allen Augenfaltern ernähren sich seine Raupen von Gräsern.»

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Unter der Wandflue hat Martin Albrecht einen Schmetterling entdeckt.

Tagaktive Nachtfalter

Martin Albrecht ist Schmetterlingsexperte. Hauptberuflich in der Informatik tätig, beschäftigt er sich seit seiner Kindheit mit Faltern. Heute arbeitet er beispielsweise beim Biodiversitätsmonitoring Schweiz mit, das seit über 20 Jahren die Vielfalt von bestimmten Pflanzen- und Tiergruppen erhebt. Dieses vom Bund finanzierte Programm soll aufzeigen, wie sich die Biodiversität in der Schweiz über die Zeit verändert. Spezialistinnen und Spezialisten zählen dafür in regelmässigen Abständen die Arten auf einer bestimmten Fläche oder einem genau vorgegebenen Wegstück. Gezählt und bestimmt werden zum Beispiel die Vögel, die Gefässpflanzen, die Moose, die wirbellosen Tiere in Fliessgewässern – und die Tagfalter.

In der Schweiz leben ungefähr 200 Tagfalterarten, dazu kommen ungefähr 3800 Nachtfalter. Gemeinsam bilden sie die Insektengruppe der Schmetterlinge. Nachtfalter kann man auch tagsüber zu Gesicht bekommen, wie Albrecht mit dem nächsten Schwung seines Fangnetzes beweist. Im Röhrchen flattert nun ein schwarzer Falter. «Ein Schwarzspanner», sagt Albrecht. Als sich das Insekt beruhigt hat, deutet er auf dessen feine, gleichmässige Fühler. «Sie sind vorne nicht keulenförmig verdickt, daran lassen sich Nachtfalter von Tagfaltern unterscheiden.»

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Eine Nachtfalterlarve auf einer Orchidee.

Tausende Tagfalter

Auf der Rundwanderung von der Birematte über den Ruedersberg hoch zum Pass Wolfs Ort und über Venners Chöpfli wieder hinunter liegt das Hauptaugenmerk aber auf den Tagfaltern. Und davon gibt es jede Menge. Alle paar Schritte fängt Martin Albrecht ein neues Exemplar. Manche Arten, wie das Kleine Wiesenvögelchen oder der orange-schwarz gefärbte Kleine Fuchs, sind auch im Mittelland häufig.

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Ein Kleines Wiesenvögelchen landet im Röhrchen zum Beobachten. Es ist ein Augenfalter.

Andere sind auf höhere Lagen spezialisiert und typische Bewohner von Alpweiden. Zum Beispiel das Alpen-Wiesenvögelchen, das Albrecht auf einer Wiese findet. Es ähnelt dem Kleinen Wiesenvögelchen, ist aber etwas kontrastreicher gefärbt und besitzt auf den Unterseiten der Hinterflügel eine ganze Reihe von Augenflecken.

Artenvielfalt verschwindet

Auf Alpwiesen und -weiden hat es Tagfalter in Hülle und Fülle. «Das liegt vor allem daran, dass es hier noch magere Wiesen mit grosser Pflanzenvielfalt gibt», sagt Albrecht. Früher gab es die auch im Mittelland, bevor die grossflächige Düngung dort die meisten in Fettwiesen verwandelte, auf denen nur noch wenige anspruchslose Pflanzen wachsen. Er beobachte zunehmend, dass auch in höheren Lagen Gülle auf Wiesen ausgebracht werde, um ein bisschen mehr Ertrag aus den Flächen zu holen, sagt Albrecht. «So verschwinden sehr schnell Flächen, die einst eine enorme Artenvielfalt aufwiesen.»

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Die blühenden Bergwiesen auf einem Hochplateau unterhalb der Gastlosen sind ein Paradies für Insekten.

Auf dem Obere Ruedersberg steigt der Weg an in Richtung der mächtigen Wandflue. An einer Böschung sitzen gleich drei kleine Schmetterlinge auf einer Pflanze. Es handelt sich um eine Paarung, eines der beiden Männchen ist überzählig und wird vom anderen verscheucht. «Das ist der Schwarzfleckige Ameisenbläuling, eine spannende Art», sagt Albrecht. Seine Larven entwickeln sich zuerst auf Thymian oder Oregano. Nach ein paar Wochen verlassen sie ihre Futterpflanze und warten darauf, dass sie von Ameisen gefunden werden. Diese halten die Larve, wohl aufgrund von Duftstoffen, für eine Artgenossin und bringen sie ins Ameisennest. Dort ernährt sich die Bläulingsraupe von Ameiseneiern und -larven, bis sie sich im kommenden Frühjahr in einen Falter verwandelt.

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Der Wanderweg arbeitet sich im Zickzack hinauf zu den imposanten Gastlosen.

Violett-blaues Juwel

Martin Albrecht hat einen Bachlauf entdeckt, an dessen Ufer ganze Heerscharen von Schlangenknöterich-Pflanzen ihre rosaroten, ährenförmigen Blüten in die Sonne strecken. Er schlägt einen kurzen Abstecher vor, um einen Schmetterling aufzuspüren, den er dort vermutet.

Tatsächlich dauert es nicht lange, bis der Gesuchte im Plastikröhrchen flattert. Es ist der Blauschillernde Feuerfalter, ein kleiner Schmetterling, dessen Flügeloberseite zwischen der orangen Grundfarbe wunderbar violett-blau schillert. «Ein kleines Juwel», sagt Albrecht. «Er ist schweizweit selten und braucht grosse Schlangenknöterich-Bestände, damit sich seine Larven entwickeln können.»

Die Gipfelbalz

Der nächste Teil der Rundwanderung ist der anstrengendste. Der Wandflue entlang steigt der Wanderweg zackig empor. Auf den Wiesen blüht es in allen Farben. Albrecht entdeckt einen Apollo-Falter, der durch die Luft segelt. Das Gelände ist zu steil, um dem prächtigen, weissen Schmetterling mit seinen schwarzen Flecken und rot gefüllten Ringen nachzustellen. Nach ein paar Kurven durch ein lichtes Wäldchen ist der Anstieg geschafft: Flach führt der Weg nun über Kalkschutt.

Zwei grosse, gelb-schwarze Schmetterlinge gaukeln über einer Matte mit Wald-Storchenschnabel und Roten Lichtnelken. Es sind zwei Exemplare des wohl bekanntesten Tagfalters der Schweiz: des Schwalbenschwanzes. Für Albrecht ist es keine Überraschung, diese Art hier zu finden. Die Männchen von Tagfaltern haben nämlich unterschiedliche Strategien, um Weibchen zur Begattung zu finden, wie er erzählt. Bei manchen Arten patrouillieren sie ganz gezielt zu möglichen Futter- oder Nektarpflanzen. Bei anderen besetzen sie Reviere und warten auf besonnten Zweigen auf eine mögliche Partnerin. Beim Schwalbenschwanz lässt sich ein drittes Phänomen beobachten: die sogenannte Gipfelbalz. Die Männchen fliegen an markanten Erhebungen empor und warten dort darauf, dass die Weibchen an diesen «Balzplätzen» nach Partnern suchen.

Keine Schattenfreunde

Nach einigen Hundert Metern ist der höchste Punkt der Rundwanderung erreicht – der Wolfs Ort, der den Übergang zur Freiburger Seite der Gastlosen markiert. Ein paar Wolken sind aufgezogen, der Wind frischt auf. Sofort wirken die Wiesen wie verlassen. Mit Wind könnten Schmetterlinge im Gebirge zwar gut umgehen, sagt Albrecht. «Aber im Schatten stellen sie ihre Aktivität ziemlich rasch ein.»

Hier und da flattert noch ein einsamer Falter – Albrecht sieht jeweils schon von Weitem, dass es sich um eine Art handelt, die er bereits bestimmt hat.

Der letzte Fund des Tages liegt dann ganz prosaisch auf der Strasse. Es ist die behaarte Raupe eines Alpen-Ringelspinners, die wohl auf der Suche nach einer neuen Futterpflanze oder einer geeigneten Stelle zur Verpuppung ist. Ihre Haare sehen ganz schön gefährlich aus. Doch Albrecht winkt ab. «Sie brennen nicht», sagt er, nimmt ruhig die Raupe auf und legt sie an eine geeignete Stelle am Strassenrand.

Bildstrecke

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Tipp

Die Gastlosen bieten genügend Wandermöglichkeiten für einen mehrtägigen Aufenthalt. Eine Übernachtungsmöglichkeit ist die SAC-Hütte Grubenberg, die von der Wanderroute aus leicht zu erreichen ist. In der nahegelegenen Alphütte produziert ein Käser im Sommer Alpkäse – und lässt sich jeweils morgens bei der Arbeit über die Schulter schauen.

grubenberg.ch

Simon Koechlin

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Berner Oberland Magazin DAS WANDERN

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